Wortschatz,

wenn die Worte fehlen …

Die Sprachwissenschaft bezeichnet mit den Begriffen „Wortschatz“ oder  „Lexikon“, die Menge an Wörtern, die Menschen verstehen oder sprechen. Wir unterscheiden den passiven Wortschatz (verstehen) und den aktiven Wortschatz (sprechen).

Wenn ich bei diesem Artikel Zahlen nenne, so stammen sie aus dem Buch Wortschatzsammler von Prof. Hans-Joachim Motsch, der an der Universität Köln Sprachbehindertenpädagogik lehrte. Ein super sympathischer Dozent und Forscher, der für die Sprachtherapie weltweit (seine Bücher wurden auch ins Englische übersetzt) wichtige Impulse gesetzt hat und seit kurzem im Ruhestand ist.

Zuerst einmal ein Beispiel aus der „Erwachsenensprache“: Ich schlage das Wort   „Diskrepanz“ vor, das bestimmt in ihrem passiven Wortschatz gespeichert ist, aber in ihrem aktiven Wortschatz befindet sich vielleicht eher das Wort „Widersprüchlichkeit“. Gerade bei Fremdwörtern können wir uns die Bedeutung oft erschließen, sie verstehen, verwenden sie aktiv jedoch nicht. So ist der passive Wortschatz in der Regel viel größer.

Bei Erwachsenen liegt der passive Wortschatz bei 50.000 bis 200.000 Wörtern im Vergleich dazu ist der aktive Wortschatz mit ca. 15.000 Wörtern wesentlich geringer. Der Wortschatz ist je nach Bildungsbiographie natürlich sehr unterschiedlich.

Ich finde diese Zahlen schon beeindruckend!            
                 
Das erste Wort erscheint bei Kindern in der Regel mit dem ersten Geburtstag. Oft ist es Mama, Papa, Wau Wau, Do do usw.

„Do do“ war das erste Wort meines ältesten Sohnes.  „Dodo“ hieß Traktor. Traktoren waren einfach seine Welt, etwas Wichtigeres gab es die ersten Lebensjahre nicht und andere Fahrzeuge bekam er die ersten Lebensjahre auch kaum zu Gesicht, weil unsere Welt sehr klein war. Wir leben auf dem Land. Natürlich hat er auch schnell andere Wörter gesprochen. Aber „Mama“ war tatsächlich nicht an erster Stelle!

Schon mit zwei Jahren spricht ein Kind  zwischen 285 und 482 Wörter und dann geht alles rasend schnell. Die Forschung besagt, dass pro Wachstunde ein Wort gelernt wird.

 Wie funktioniert dieser Wortschatzerwerb, der von großer Bedeutung für die Sprachentwicklung und Intelligenzentwicklung ist, denn je mehr Begriffe ein Kind benennen kann umso mehr versteht es in der Regel von der Welt. So hat sich mein Wortschatz durch meine Söhne enorm erweitert, denn ich kannte früher weder ein Frontmähwerk noch einen Großflächenschwader.  Wir lernen in punkto Wortschatz nie aus, das steht fest.

Mit drei Jahren liegt das Wortverständnis schon bei 1.000 oder 2.000 Wörtern. Der aktive Wortschatz liegt bei ca. 500 Wörtern. Mit sechs Jahren haben Kinder schon fast die Hälfte des Erwachsenenwortschatzes erreicht.
 
Eine rasante Entwicklung, die nicht kontinuierlich erfolgt. Man spricht von sog. Wortschatzspurts, Phasen, in denen rasend schnell neue Worte gelernt werden. Es ist durchaus möglich, dass Kinder, die mit drei Jahren kaum gesprochen haben, innerhalb weniger Monate das Niveau von Gleichaltrigen erreichen. Bei Kindern, die so spät noch sehr wenig sprechen, sollte die Sprachentwicklung aber sehr sorgfältig beobachtet werden. Denn sie brauchen manchmal tatsächlich einen „Anschubser“, also Therapie, damit es gut weiterlaufen kann.

Der Wortschatzerwerb setzt schon sehr früh ein, dann wenn Eltern noch gar nicht daran denken, nämlich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. Ein Kind lernt eine Beziehung zwischen einem Objekt, mit dem es gerade handelt (also etwa eine Rassel laut zu schütteln) und einer Person (es schaut die Mama an, die hoffentlich begeistert „die Rassel ist aber laut“ sagt) herzustellen. Dies nennt man triangulieren, also drei Punkte: Kind – Gegenstand – Bezugsperson.

Die Bezugsperson hat nur die Funktion die Tätigkeit des Kindes auszusprechen, also ein Wort oder einen kurzen Satz anzubieten. Das ist ein liebevoller Blickkontakt und Sprache. Die Bezugsperson sollte nur aufmerksam diese Momente erleben. Achtung! Hier lenken die modernen Medien Kinder und Bezugspersonen ab! Die Triangulierung kann u.U. beeinträchtigt werden und er Wortschatzerwerb wird empfindlich gestört.

Später gibt es das Fragealter. „Warum?“ Prof. Motsch drückt es so schön aus „Fragen sind Geschenke der Kinder!“. Auch wenn das eine nervige Phase sein kann, sprechen kann man als Bezugsperson eigentlich nie zu viel, wenn man aufmerksam auf das Kind achtet. Denn das Kind lernt hier fast ausschließlich durch Vorbild und Nachahmung. Erst sehr viel später kommt die Schriftsprache dazu, wenn Kinder lesen lernen, lernt es auch viele neue Wörter …

Leider wird der Wortschatz selten überprüft und bestimmt bekommen viel weniger Kinder Therapie, damit sich der Wortschatz entsprechend der eigenen Fähigkeiten entwickeln kann. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Eltern können ihr Kind anregen, viel mit ihm handeln, spielen, basteln, vorlesen, in die Natur gehen und an den eigenen Hobbies teilnehmen lassen. Ich schicke Kinder sehr gerne mit den Papas in die Werkstatt. Eine Fundgrube für viele neue Wörter und jeder Papa freut sich über einen fleißigen Helfer … auch die Mamas freuen sich über Mithilfe. Das geht schon sehr, sehr früh, wenn auch noch nicht perfekt. Kinder an den Herd! Kochen ist für den Wortschatzerwerb ideal!

 Eltern sollen sehr sorgfältig auf diesen Aspekt der sprachlichen Entwicklung achten und dem Kinderarzt spätestens bei der U8 berichten, wenn sie Auffälligkeiten in der Wortschatzentwicklung  beobachten. Dies wird als semantisch-lexikalische Störung bezeichnet und kann immer erfolgreich behandelt.

In der Therapie haben wir einen Helfer. Pirat Tom darf mit dem Kind Schätze sammeln. Das sind die neuen Wörter. Tatsächlich ist das eine sehr spannende und unterhaltsame Form der Therapie, deren Wirksamkeit in einer großen Studie bestätigt wurde.